Verkehrsspitzen glätten: Mobilitätsmanagement im Ausbildungsverkehr
Erstellt am 03.05.2018
Online Version: https://www.mobilservice.ch/de/1948.html
Profil & Eckdaten
zugeordnete Tags/Schlagwörter
Jährliche Betriebskosten
- gering (bis Fr. 5'000.-)
Investitionskosten
- gering (bis Fr. 10'000.-)
- mittel (bis Fr. 50'000.-)
Bemerkungen
Die Arbeit der am Projekt Beteiligten erfolgte im Rahmen des üblichen Berufsauftrags. Im Vorprojekt waren die Umfrage bei den Beteiligten sowie die Erstellung des fiktiven Stundenplans die Hauptkostenverursacher. Im Hauptprojekt waren für die Erweiterung des MobXpert-Tools und die Infrastruktur-Checks finanzielle Aufwände nötig. Wer am Projekt anknüpft kann mit geringem bis mittlerem Aufwand eine vergleichbare Wirkung erzielen.
Raumtyp
- Zentrum / Stadt
- Agglomeration
Gemeindegrösse
- 10'000 - 20'000 Einwohner
- > 20'000 Einwohner
Den öffentlichen Verkehr in den Spitzenzeiten gezielt entlasten: Dies war das Ziel eines Projekts, das der Kanton Bern in Zusammenarbeit mit zehn Berufsfachschulen und Gymnasien im Raum Bern realisierte. Die Transportunternehmen analysierten die spezifischen Herausforderungen an den verschiedenen Schulstandorten. Daraus definierten die Schulen Möglichkeiten für moderate stundenplanerische Anpassungen und beschlossen Massnahmen in den Bereichen Mobilitätsmanagement und Sensibilisierung. Das Projekt erzielte bereits erste Erfolge und motiviert hoffentlich zahlreiche andere Akteure, ähnliche Massnahmen zur Entlastung der Verkehrsspitzen umzusetzen.
Beispiele
Berufsfachschulen am Standort Lorraine in Bern
Am Standort Lorraine gibt es mehrere Berufsfachschulen (die Gewerblich Industrielle Berufsschule Bern, die Schule für Gestaltung sowie die Technische Fachschule Bern), wo täglich rund 1‘400 Lernende zur Schule gehen. Vorabklärungen ergaben, dass eine Staffelung der Schulbeginnszeiten sowohl aus Sicht Stadtverkehr wie auch aus Sicht Regionalverkehr sehr sinnvoll wäre.
Bereits zu Beginn des Schuljahres 2017/18 gelang es den Schulen, durch Koordination den Unterrichtsbeginn zeitlich zu staffeln. Zwei Schulen führten gar gleitende Unterrichtszeiten ein und die Gewerblich Industrielle Berufsschule Bern legt den dezentralen Sportunterricht vermehrt auf die erste und letzte Lektion. Im Bereich Sensibilisierung arbeiten alle drei Schulen mit dem interaktiven Lehrmittel MobXpert und motivieren die Lernenden, den Weg vom Bahnhof zur Schule vermehrt zu Fuss zurückzulegen. Diverse Massnahmen im Handlungsfeld Mobilitätsmanagement sollen den Velo- und Fussverkehr attraktiver machen. Bereits sind erste positive Ergebnisse zu verzeichnen: An der Haltestelle Lorraine steigen zur morgendlichen Verkehrsspitze mehr als 6% weniger Personen aus als im Vorjahr.
Gymnasium Neufeld in Bern
Rund 1350 GymnasiastInnen gehen im Schulhaus Neufeld zur Schule. Wie eine Umfrage im Rahmen des Vorprojekts zeigte, legen 83% von ihnen den Schulweg mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurück. Aus Sicht des Stadtverkehrs ist der heutige Schulbeginn (um 8 Uhr) gut gewählt. So kommen die GymnasiastInnen perfekt an den Uni-Studierenden, die dieselbe Linie nutzen, vorbei. Allerdings empfahlen die Transportunternehmen eine ausgeprägtere Verteilung des Schulbeginns auf die erste beziehungsweise zweite Lektion zu prüfen. Schon wenn die Anzahl SchülerInnen, die erst auf die zweite Lektion zur Schule kommt, um moderate 10% zunimmt, entlastet dies die S-Bahn deutlich und ermöglicht allenfalls eine Einsparung eines Postauto-Zusatzkurses.
Das Gymnasium Neufeld begann bereits auf Schuljahr 2017/18, solche stundenplanerischen Massnahmen umzusetzen. Ein Infrastrukturcheck deckte diverse Handlungsoptionen zur Verbesserung der Veloinfrastruktur auf, wie zum Beispiel sichere Radwege, gedeckte Veloabstellplätze, Velo-Reparaturmöglichkeiten oder Duschanlagen. Ausserdem will die Schule die Velokultur gezielt fördern und im Unterricht das Thema Mobilität vermehrt zum Thema machen.
Auch am Standort Neufeld zeigen die Massnahmen bereits Wirkung: An der Haltestelle Lindenhof sind vor dem Beginn der ersten Lektion rund 20 Prozent weniger Personen ausgestiegen als im Vorjahr, trotz einer Zunahme der Schülerzahl.
Beschrieb
Hintergrund
Der öffentliche Verkehr in der Region Bern ist am Morgen und Abend oft überlastet. Danach und davor sind aber freie Kapazitäten vorhanden. Der Ausbau des ÖV-Angebots zu Spitzenzeiten ist teuer. Deshalb sucht der Kanton nach Möglichkeiten, die Verkehrsströme besser über den Tag zu verteilen. Gymnasien und Berufsfachschulen können einen Beitrag dazu leisten. Denn mehr als zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler nutzen die öffentlichen Verkehrsmittel auf ihrem Schulweg und sind dabei morgens oft zur gleichen Zeit unterwegs wie die Berufspendler. Der Kanton Bern realisierte darum ein Projekt zur Flexibilisierung des Schulbeginns, an dem sich zehn Schulen im Raum Bern mit insgesamt rund 8‘000 Schülerinnen und Schülern beteiligten.
Angebot
Das übergeordnete Ziel des Projektes ist, Lösungen zu finden, wie Gymnasien und Berufsschulen einen Beitrag zur Entlastung der Verkehrsspitzen im öffentlichen Verkehr leisten können. Abklärungen im Rahmen eines Vorprojekts ergaben, dass ein genereller Schulbeginn ab 9h für den Schulbetrieb grundsätzlich möglich wäre. Eine Umfrage zeigte jedoch, dass diese Massnahme bei SchülerInnen, Eltern und Lehrpersonen auf wenig Akzeptanz stösst, da der dadurch verursachte spätere Schulschluss die ausserschulische Aktivität der SchülerInnen – z.B. in Sportvereinen oder Musik – beeinträchtigen würde. Eine Mehrheit der Befragten könnte sich jedoch eine moderate Ausgestaltungsform eines späteren Schulbeginns vorstellen. Darum standen für das Hauptprojekt folgende drei Handlungsfelder im Fokus:
- Stundenplanerische Massnahmen zur Reduzierung der Anzahl Schülerinnen und Schüler, die während der Verkehrsspitzen unterwegs sind.
- Massnahmen im Bereich Mobilitätsmanagement, die insbesondere den Fuss- und Veloverkehr fördern.
- Sensibilisierung der SchülerInnen für Mobilitätsthemen. Unter anderem wurde den Schulen mit MobXpert ein interaktives Lehrmittel zur Verfügung gestellt und um das Thema Verkehrsspitzen erweitert. MobXpert enthält ein Mobilitätstool, welches den Jugendlichen ermöglicht, das eigene Unterwegssein kennen zu lernen, mit anderen zu vergleichen und bezüglich Umweltwirkung und Kosten auszuwerten. Verschiedene Themendossiers liefern wertvolle Hintergrundinformationen. Ein didaktischer Leitfaden rundet das Angebot des Mobilitäts-Lehrmittels ab.
Erfahrungen
Ein wichtiger Erfolgsfaktor war die enge Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Ämtern, den Transportunternehmen und den Schulen. Dies schuf ein gemeinsames Verständnis für die Herausforderungen im Zusammenhang mit der Glättung von Verkehrsspitzen. Ein Beteiligter brachte die Gemeinsamkeiten sehr treffend auf den Punkt: „Die Transportunternehmen erstellen Fahrpläne, die Schulen Stundenpläne und beides sind sehr anspruchsvolle Aufgaben.“
Die Schulen zeigten eine grosse Bereitschaft, sich konstruktiv an der Lösungsfindung zur Glättung von Verkehrsspitzen zu beteiligen. Es war für sie sehr wichtig, dass die Transportunternehmen die ortsspezifischen Herausforderungen punkto Verkehrsspitzen genau analysierten. So erhielten nur jene Schulen Prüfaufträge für stundenplanerische Anpassungen, wo tatsächlich ein Handlungsbedarf besteht. Die vorgeschlagenen Massnahmen waren folglich sehr vielfältig und präzis an die spezifischen Gegebenheiten angepasst.
Mit gezielten stundenplanerischen Massnahmen, welche bereits auf Beginn des Schuljahres 2017/18 greifen oder auf das Schuljahr 2018/19 umgesetzt werden, konnte bereits erreicht werden, dass ca. zehn Prozent (rund 700 SchülerInnen) später mit dem Unterricht starten. Dies ist ein wichtiger Beitrag zur Glättung der morgendlichen Verkehrsspitze. Zwei Schulen planen weitergehende Schritte: So erwägt eine Schule schrittweise eine komplette Umstellung auf die zweite Lektion, eine andere Schule plant eine grundsätzlich neue Stundenplangestaltung, die eine Verschiebung des Unterrichtsbeginns um ca. eine halbe Stunde bringen würde. Diese Massnahmen haben das Potential, die morgendliche Rush-Hour nochmals um bis zu 2000 SchülerInnen zu entlasten.
Das Projekt setzte eine Dynamik in Gang und ermutigt andere Institutionen ähnliche Massnahmen zu realisieren.
Wirkung
Umwelt und Energie
Neben der Glättung der Verkehrsspitzen beim ÖV will das vorliegende Projekt auch den Fuss- und Veloverkehr fördern und das Bewusstsein für nachhaltige Mobilitätsformen bei den Lernenden stärken. Wenn mehr Personen umweltfreundlich unterwegs sind, hat dies einen positiven Effekt auf Ressourcenverbrauch und Emissionen.
Gesellschaft
Eine Glättung der Verkehrsspitzen im öffentlichen Verkehr erhöht den Komfort aller Fahrgäste und trägt zu einem Verkehrssystem bei, das die Mobilitätsbedürfnisse der Bevölkerung möglichst optimal befriedigt. Im Sinne einer Bildung für nachhaltige Entwicklung involviert das Projekt Schulen und Lernende in die Entwicklung von Lösungen.
Wirtschaft
Es ist volkswirtschaftlich nicht sinnvoll, den Ausbau der Verkehrsnetze auf die (kurzen) Spitzenstunden auszurichten. Eine Glättung der Verkehrsspitzen leistet darum einen Beitrag zu mehr Kosteneffizienz. Eine Studie schätzt die potentiellen Einsparungen dank flexibler Arbeitsformen und angepasster Stundenpläne allein für die Region Bern auf CHF 17 Mio. jährlich, für die ganze Schweiz sind Einsparungen in der Grössenordnung von rund 140 Mio. CHF pro Jahr plausibel (Ecoplan 2015).
Werkzeugkasten
Vorgehen
Ausgehend von einer Motion eruierten das Amt für öffentlichen Verkehr und Verkehrskoordination (AÖV) und das Mittelschul- und Berufsbildungsamt (MBA) des Kantons Bern zusammen mit den drei Gymnasien des Raums Bern in einem Vorprojekt, welchen Beitrag die Schulen zur Verringerung der morgendlichen Verkehrsspitze leisten können. Dieses Vorprojekt umfasste folgende Schritte:
- Analyse der Ausgangslage: Schätzungen zum Anteil des Ausbildungsverkehrs in den Hauptverkehrszeiten
- Machbarkeitsstudie: Erstellung eines fiktiven 9-Uhr-Stundenplans für das Gymnasium Neufeld
- Umfrage bei GymnasiastInnen, Lehrpersonen und Eltern zur Akzeptanz eines 9-Uhr-Stundenplans und zum Mobilitätsverhalten
Am Hauptprojekt beteiligten sich alle Gymnasien und Berufsfachschulen des Raums Bern. Der Prozess wurde strategisch von einem gemeinsamen Steuerungsausschuss des AÖV und des MBA geleitet und umfasste folgende Arbeitsschritte:
- Analysen für die jeweiligen Schulstandorte durch die Transportunternehmungen und Erstellung von schulspezifischen Steckbriefen und Prüfaufträgen. Das Ziel war, die Schulen nur dann mit der Prüfung von stundenplanerischen Massnahmen zu beauftragen, wenn diese aus Sicht der Transportunternehmungen auch sinnvoll sind.
- Erarbeitung von Massnahmen durch die Schulen in den Handlungsfeldern ˶Stundenplan", ˶Mobilitätsmanagement" (mit Möglichkeit für Infrastrukturcheck durch eine externe Stelle) und ˶Sensibilisierung".
- Anpassung des interaktiven Lehrmittels MobXpert, welches Schulen bei der Sensibilisierung der Lernenden für nachhaltige Mobilität unterstützt.
Nach Abschluss des Projektes wurden die Zuständigkeiten für die Folgearbeiten geklärt. Insbesondere wurden die definierten stundenplanerischen Massnahmen in die Leistungsvereinbarungen mit den Schulen aufgenommen. Die Transportunternehmungen und die Schulen werden die Wirkung periodisch überprüfen.
Finanzierung
Die Arbeit der am Projekt Beteiligten erfolgte im Rahmen des üblichen Berufsauftrags. Die Aufträge an Dritte beliefen sich sowohl für das Vorprojekt wie auch für das Hauptprojekt auf je CHF 60'000.-. Wiederkehrende Kosten gibt es alleine für den Betrieb von MobXpert. Die Realisierung der Infrastrukturmassnahmen übernimmt die Stadt und das Amt für Grundstücke und Gebäude im Rahmen ihres laufenden Auftrages.
Marketing
Der Berner Verkehrstag 2015 war dem Thema „Glättung von Verkehrsspitzen‟ gewidmet und bot Gelegenheit, die Resultate der Vorprojektphase zu präsentieren und zu diskutieren. BVD-Lehrlinge drehten dafür einen Film mit dem Titel „Verkehrsüberlastungen zu Spitzenzeiten - ein Vorschlag zur Abhilfe‟
Die Resultate des Hauptprojekts wurden im Dezember 2017 den Medien vorgestellt. Die Kommunikation der schulspezifischen Massnahmen lag bei den jeweiligen Schulen. Sie organisierten beispielsweise Präsentationen zum Schulstart oder diskutierten im Geographieunterricht die umgesetzten Massnahmen vor dem Hintergrund einer nachhaltigen Mobilität.
Weitere Informationen
- Informationen zum Projekt „Verkehrsspitzen glätten im Ausbildungsverkehr" auf der Website der Bildungs- und Kulturdirektion des Kantons Bern
- Informationen zum Projekt „Verkehrsspitzen glätten - Infrastrukturen smarter nutzen" auf der Website der Bau- und Verkehrsdirektion des Kantons Bern
- MobXpert: Interaktives Lehrmittel zu Mobilität für Sekundarstufe II
- Video Beitrag von BVD-Lehrlingen zu Verkehrsüberlastungen zu "Spitzenzeiten - ein Vorschlag zur Abhilfe" (2015)
- SBB: Pendeln ausserhalb der Stosszeiten
- Mobilservice News Dossier zu „Mobilitätslehrmittel MobXpert“ (September 2017)
- Mobilservice News Dossier zu „Travel Smart – Verkehrsspitzen brechen“ (März 2017)
Kontaktadressen und Bezugsquellen:
- Kanton Bern
Bau- und Verkehrsdirektion BVD
Amt für öffentlichen Verkehr und Verkehrskoordination (AÖV)
Manon Giger
Reiterstrasse 11
CH-3011 Bern
Tel. 031 633 37 11
- Kanton Bern
Bildungs- und Kulturdirektion
Mittelschul- und Berufsbildungsamt (MBA)
Mario Battaglia
Kasernenstrasse 27
CH-3000 Bern 22
Tel. 031 633 87 00
Fragen Sie auch die Vertreter von Mobilservice Praxis Ihres Kantons um Rat.
Verantwortlich für die Ausarbeitung dieses Praxis Beispiels:
Dokumente
Dokumente auf Deutsch
- Schlussbericht des Vorprojektes: „Verkehrsspitzen glätten mit späterem Schulbeginn“ (September 2015) [PDF, 889 KB]
- Schlussbericht des Hauptprojekts "Verkehrsspitzen glätten im Ausbildungsverkehr" (April 2018) [PDF, 350.4 KB]
- Studie im Auftrag der Metropolitankonferenz Zürich: „Brechen der Verkehrsspitzen“ (Infras 2016) [PDF, 2.93 MB]
- Studie „Verkehrsinfrastrukturen smarter nutzen dank flexibler Arbeitsformen“ [PDF, 922.4 KB]
- Studie SVI: „Zeitliche Homogenisierung der Verkehrsbelastung – Brechen von Spitzen“ (SVI, Oktober 2016), September 2015) [PDF, 6.62 MB]